Das Erdbeben von Kreta geht auf einen paradoxen Effekt zurück. Dort prallt Afrika gegen Europa – doch statt die Insel zusammenzudrücken, zerrt der Kontinent sie nach Süden.
von Lars Fischer Das Erdbeben der Stärke 6,4 östlich von Kreta ist paradox. Es fand in einer Kollisionszone statt, an der zwei Erdteile unaufhaltsam gegeneinanderpressen – und dennoch war die Ursache der Erschütterung keineswegs Druck. Im Gegenteil. Tatsächlich zeigen Messdaten weltweit, dass die Erde bebte, weil sie über ihre Belastungsgrenze hinaus auseinandergezogen wurde. Hinter dem scheinbaren Widerspruch steckt die komplexe Geologie der bogenförmige Kette von Inseln am Südrand der Ägäis, zu der auch Kreta gehört. Dort trifft die Erdkruste des von Süden heranwandernden afrikanischen Kontinents auf Europa – genauer gesagt auf die Ägäische Erdplatte, in deren Rand auch das Erdbeben stattfand. Bei dem gigantischen Zusammenstoß wurde ein uraltes Gebirge gepresst, zerbrochen und schließlich im Meer versenkt.
Der Schlüssel zur Entstehungsmechanismus ist allerdings, dass die Gesteine der Afrikanischen Platte versinken. Sie sind schwerer als das Material, aus dem Kreta und die umliegende Erdkruste aufgebaut sind. Der Zusammenstoß hebt die Vorderkante der Ägäischen Platte an und bildet einen Inselbogen von den Ionischen Inseln im Westen über Kreta bis nach Rhodos im Osten, während afrikanische Gesteine daruntergleiten und dann in den Erdmantel abtauchen. Man bezeichnet diesen Prozess als Subduktion – er läuft an vielen Orten der Welt ab und verursacht die stärksten bekannten Erdbeben. So zum Beispiel das große Tohoku-Beben in Japan 2011 oder das Sumatra-Andamanen-Beben 2004. Auch auf Kreta gibt es Hinweise auf solche Subduktionsbeben in historischer Zeit. Mehr erfahren…