WARMER ZANGENGRIFF
Das arktische Meereis sollte im Oktober rapide wachsen – doch das Polarmeer ist nicht kalt genug zum Gefrieren. Die bizarre Lage ist das Ergebnis mehrerer verbundener Effekte.
von Lars Fischer
Obwohl längst der arktische Winter eingesetzt hat, friert der Ozean nicht zu. Fast eine Million Quadratkilometer Eis fehlen derzeit im Vergleich zum 27. Oktober 2016 – als Fachleute die zuvor niedrigste jemals an dem Datum registrierte Eisbedeckung feststellten. Noch letzte Woche war das Defizit nur etwas mehr als halb so groß. Die Werte zeigen: Zu einer Zeit, in der sich die Eisflächen eigentlich rapide vergrößern sollten, bleibt das Wasser offen. Das betrifft vor allem den Ozean vor Sibirien; dort bildet sich derzeit praktisch kein neues Eis.
Ursache des Problems ist laut Mark Serreze, dem Direktor des National Snow and Ice Data Center in den USA, dass der Ozean viel mehr Wärme als sonst gespeichert hat. In der ersten Jahreshälfte 2020 ließ eine Hitzewelle in Sibirien das Meereis ungewöhnlich früh schmelzen; helles, reflektierendes Eis verschwand und gab dunkles Wasser frei, das die Sonnenwärme viel besser absorbiert. Gleichzeitig steigt schon seit Jahren relativ warmes Atlantikwasser, das bisher in der Tiefe isoliert war, näher an die Oberfläche. Das Meereis steckt von oben und unten in einem warmen Zangengriff.
Beide Effekte sind Teil eines seit Jahren andauernden Teufelskreises, bei dem fehlendes Meereis wärmeres Wasser begünstigt – das wiederum den Ozean am Zufrieren hindert. Nicht nur bedeckt weniger Eis das Meer, es ist außerdem dünner und damit weniger stabil. Dadurch schmilzt es im Frühjahr nicht nur schneller, es ist auch verwundbar gegenüber stärkeren Wellen, die sich auf den immer größeren offenen Wasserflächen bilden. Mehr erfahren…