Nach starken Beben wollen die Menschen in der Regel wissen, ob sie es überstanden haben oder ob der wirkliche Erdstoß erst noch kommt. Die Seismologen haben bislang keine zuverlässige Antwort, denn es gibt kein physikalisches Kennzeichen, das Haupt- von Vorbeben unterscheidet. Zwei Seismologen vom Schweizer Erdbebendienst in Zürich stellen in „Nature“ jetzt ein statistisches Verfahren vor, mit dem man möglicherweise einer Antwort näherkommen kann.
Wie aus heiterem Himmel traf um 3:38 Uhr des frühen 24. August 2016 ein starkes Erdbeben mit Magnitude 6,0 das mittelalterliche Städtchen Amatrice in den grünen Bergen der italienischen Marken. 300 Menschen starben in ihren Häusern, zahlreiche historische Gebäude wurden schwer beschädigt, die Uhr des kommunalen Uhrenturms aus dem 13. Jahrhundert blieb auf dem Zeitpunkt des Bebens stehen. Es war das stärkste Beben in der Region seit dem verheerenden L’Aquila-Erdstoß von 2009 und doch nur der Auftakt zu einer Serie, die erst im Januar 2017 zu einem vorläufigen Ende kam. Am 30. Oktober entlud sich das Hauptbeben der Sequenz mit einer Momentmagnitude von 6,5 und fast der sechsfachen Energie des Amatrice-Bebens unter dem 25 Kilometer entfernten Norcia. Schwere Zerstörungen dort und in den bereits zuvor getroffenen Orten waren die Folge.
Über Monate musste der italienische Erdbebendienst die Menschen der Region, die Zivilschutzbehörden und die Kommunalverwaltungen darüber im Unklaren lassen, ob sie das Schlimmste bereits überstanden oder noch zu erwarten hatten. „Wissenschaftlich ist es bisher nicht möglich in einer laufenden Serie zu entscheiden, ob das Hauptbeben bereits stattgefunden hat oder ein größeres Ereignis erst noch bevorsteht“, schreiben Laura Gulia und Stefan Wiemer vom Schweizer Erdbebendienst (SED) in der aktuellen „Nature“. Sie stellen dort eine statistische Methode vor, die mit ausreichender Sicherheit zeigen könnte, ob eine Bebenserie ihren Höhepunkt bereits hinter sich hat. Auf dieser Basis könnte man noch während des Geschehens eine verlässliche Mitteilung an Bevölkerung und Zivilschutz absenden.
Änderung im b-Wert als Grundlage der WarnungGrundlage ist ein Element der Gutenberg-Richter-Relation, die den statistischen Zusammenhang zwischen Magnitude und Häufigkeit von Erdbeben wiedergibt. Es handelt sich um den sogenannten b-Wert, der so etwas wie das Erdbebenprofil einer bestimmten Region angibt. Konkret misst er die Häufigkeitsverteilung der Beben unterschiedlicher Magnitude auf einer logarithmischen Skala. „Wo natürliche Seismizität auftritt, erwarten wir einen b-Wert von etwa 1“, erklärt Lars Ceranna, Seismologe bei der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover, die für die Bundesrepublik das Pendant zum SED betreibt. Mehr erfahren…